Eingefangene Sporen — Wie es gelang, Flechten zu kultivieren
22.07.2020
Sie schießen wie Geschosse weg
„Eine Flechte ist eine symbiotische Lebensgemeinschaft zwischen Pilzen und Algen. Wenn sich Pilzpartner in Flechten sexuell fortpflanzen, dann schießen die Sporen von ihren Fruchtkörpern wie Geschosse weg. Dies habe ich mir zu Nutze gemacht. Eine Petrischale besteht aus Boden und Deckel. Den Boden habe ich mit dem Nährmedium Agar versehen. In den Deckel habe ich die Fruchtkörper der Flechten gesetzt, die Petrischale kopfüber gestellt und darauf gewartet, dass sie ihre Sporen herausschleudern, die dann an der Decke, ursprünglich dem Boden der Petrischale, im Agar haften bleiben“, erzählt Zakieh Zakeri. Mit den auf diese Weise ‚eingefangenen‘ Sporen hat sie weitergearbeitet und Pilzkulturen erzeugt. Des Weiteren isolierte und kultivierte sie die passende Alge von jeder Flechte, um im nächsten Schritt die isolierten Flechtenpartner dann wieder zusammen zu kultivieren. Während ihrer Promotion arbeitete sie am Senckenberg-Museum in Görlitz mit Flechten und beschäftigte sich eingehender mit Organen und Inhaltsstoffen dieses Organismus. Für diese Methode der Kultivierung kann sie allerdings nur jene Flechten verwenden, die in ihren Thallus (Pflanzenkörpern) Fruchtkörper haben und die Sporen zur Fortpflanzung herausschleudern. Am Fachgebiet Bioverfahrenstechnik forscht sie seit November 2019. Wenn Peter Neubauer von den Erfolgen seiner Kollegin erzählt, hört man förmlich die Begeisterung in seiner Stimme. Er weiß eben, wie schwierig es ist, Flechten im Labor zu kultivieren. Dies ist ein Grund dafür, warum sie in der Bioverfahrenstechnik bislang kaum eine Rolle spielen. Peter Neubauer will das ändern und sie für industrielle biotechnologische Produktionsprozesse nutzbar machen. Bislang ist das nicht möglich.
Gegen Reizhusten, Fußgeruch und zur Bindung flüchtiger Parfümöle
Die in den Flechten enthaltenen Stoffe spielen seit alters her in vielerlei Hinsicht eine Rolle – in der Medizin zum Beispiel als Heilmittel. In den Alpen etwa wird der sogenannte Altmännerbart gegen Husten und Fieber verabreicht, Isländisch Moos ebenfalls gegen Reizhusten, Bronchitis sowie Magen-Darm-Beschwerden oder zur Unterbindung von Fußgeruch. Bei Letzterem wird die antibiotisch wirkende Usninsäure der Bartflechte für antibiotische Salben genutzt. In der Parfümherstellung dient ein Flechtenextrakt dazu, flüchtige Parfümöle zu binden. Andere Flechtenstoffe können im Pflanzenschutz eingesetzt werden zum Beispiel gegen Schneckenfraß. Mit der Wolfsflechte wurden Fuchs- und Wolfköder vergiftet. Wolle und Stoffe werden mit Flechten gefärbt. Das Lackmus für den namengebenden Test ist ein früher aus Flechten gewonnener Farbstoff, und in Finnland kommen Flechten sogar beim Hausbau zum Einsatz – als Dämmstoff. „Trotz dieser Vielfalt an Einsatzmöglichkeiten, vor allem als Grundlage für die Entwicklung neuer Antibiotika, und angesichts dessen, dass 700 Flechtenstoffe in ihrer chemischen Struktur aufgeklärt sind, gibt es bisher keine systematischen bioverfahrenstechnischen Ansätze, Flechten kontrolliert zu kultivieren und ihr Wachstum sowie ihre Produktion zu optimieren. Dabei liegt die Betonung auf bioverfahrenstechnischen Ansätzen. Diese Organismengruppe ist bislang weitgehend ungenutzt, da sie, wie bereits erwähnt, bislang schwer zu kultivieren ist, unter anderem weil sie extrem langsam wächst“, sagt Dr. Stefan Junne, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet.
Vision: Bergbaufolgelandschaften werden mit Flechten besiedelt
Es ist ein lang gehegter Forschertraum von Peter Neubauer, das Potenzial der Flechten zu erschließen. „Seit Jahren schon faszinieren mich Flechten – als Fotograf, sie geben fantastische Motive her, und als Wissenschaftler, weil man aus ihnen neue Antibiotika entwickeln könnte, die dringend gebraucht werden. Während meiner Professur im finnischen Oulu sah ich, dass besonders die Rentierflechte sich wie ein Teppich über riesige Gebiete von Wäldern und Bergen legt“, erzählt Peter Neubauer. Da kam ihm auch die Idee, Flechten zur Erstbesiedlung von Bergbaufolgelandschaften zum Beispiel in der Lausitz, wo einst Braunkohle abgebaut wurde, einzusetzen. Derzeit wird versucht, diese Bergbauflächen mit Büschen und Bäumen zu bepflanzen. Aber es funktioniert mehr schlecht als recht. Ein Teil stirbt immer wieder ab. Eine Ausschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), in der explizit stand, dass Organismengruppen in den Fokus zu nehmen sind, die bisher nicht biotechnologisch genutzt werden, war schließlich das Initial für Peter Neubauer und sein Team, die Forschungsidee zu Flechten zu formulieren. Die Kultivierung von Flechten ist Teil des von der TU Berlin finanzierten Citizen-Science-Projektes „Mind the Fungi“, in dem Pilze und ihre Interaktion mit anderen Mikroben, in dem Fall Algen, erforscht werden.
Erfolgreiche Experimente mit Gelb- und Mauerflechte
Für ihr Ziel, eine methodische Basis zu entwickeln, die es ermöglicht, Flechten für die biotechnologische Produktion zu nutzen, müssen die Wissenschaftler*innen unter anderem Flechtengruppen finden, die sich für eine Kultivierung eignen und einen biotechnologischen Prozess entwerfen, mit dem die begehrten Inhaltsstoffe extrahiert und synthetisiert werden können. Zakieh Zakeri hat inzwischen von den sieben verschiedenen Flechten aus Berlin, mit denen sie experimentierte, vier, darunter auch die in der Hauptstadt weit verbreitete Gelbflechte (Xanthoria parietina) und Mauerflechte (Lecanora muralis), kultiviert und sie stabil und steril halten können. „Das ist eine sehr gute Rate“, so Junne. Wobei Zakieh Zakeri mittlerweile die allgemeine Meinung, dass Flechten langsam wachsen würden, anzweifelt. Ihre Experimente hätten gezeigt, dass Flechten durchaus zu einem schnelleren Wachstum anzuregen sind, wenn Temperatur und Feuchte richtig kombiniert werden. Warum aber werden die Flechten in der Natur nicht einfach gesammelt und die begehrlichen Substanzen mit schonenden Bioverfahrenstechniken dann extrahiert und synthetisiert? „In Europa und damit auch in Deutschland stehen mittlerweile viele Flechten unter Naturschutz. Es ist gesetzlich verboten, Flechten in der Natur für wirtschaftliche Zwecke zu sammeln. Deshalb müssen die Flechten künftig im Labor kultiviert werden, um an die nützlichen Flechtensubstanzen heranzukommen“, so Neubauer.
Künstliche Symbiosen designen
„Die Flechten sind aber noch aus einem anderen Grund für uns spannend“, fügt Stefan Junne an. „Ihre symbiotische Struktur brachte uns auf die Idee, neuartige Flechten-ähnliche Gemeinschaften im Labor zu designen.“ Dafür kultiviert er derzeit phototrophe Algen und Pilze gemeinsam, die in der Natur bislang noch keine Symbiose eingegangen sind. Stefan Junne spricht von Co-Kultivierung und erschafft so künstliche Symbiosen. Auf diesem Wege will Junne, so seine Vision, neue Synthesen bisher unbekannter Wirkstoffe wie Antibiotika anregen. Quelle: TU Berlin, Pressemitteilung, 22.07.2020