Es ist nicht lange her, da war der Werkzeugkasten der Natur nur „eine von zahlreichen Optionen“ – aber keinesfalls die entscheidende. Heute ist das anders. 7 Mrd. Euro will der Bayer-Konzern in seine Pflanzenforschungssparte investieren. Allein 5 Mrd. Euro davon in Forschung & Entwicklung. Davon profitiert die Grüne Gentechnik als Kernbereich. Ein paar Kilometer weiter den Rhein aufwärts in Ludwigshafen ist man ähnlich investitionsfreudig. Seit 2007 kooperiert die BASF mit dem US-Giganten Monsanto. Die Investitionssumme: jenseits der 2 Mrd. Euro. Im Frühjahr geisterten sogar Gerüchte umher, die BASF wolle Monsanto für einen Milliardenbetrag übernehmen. Erst ein inoffizielles Dementi aus der Konzernzentrale beendete die Spekulationen. Derzeit stimulieren Deals den Markt. So kaufte der Schweizer Pflanzenschutzkonzern Syngenta AG die belgische Devgen NV für rund 400 Mio. Euro und bezahlte damit ein Premium von 70%. „Schon länger ist die Biologisierung der Industrie eine Realität. Neu ist, dass die Konzerne sie jetzt auch vorzeigen“, sagt Holger Zinke, Chef der Brain AG in Zwingenberg. Im vergangenen Jahr habe die Akquisition des dänischen Biotechnologie- und Nahrungsmittelspezialisten Danisco A/S durch den US-Chemieriesen Dupont die Augen geöffnet. Der Übernahmepreis: rund 5 Mrd. Euro. Auch für Karl-Heinz Maurer, zuständig für das Business Development der Darmstädter AB Enzymes GmbH, ist der Kauf von Danisco ein entscheidender Meilenstein. Der Hunger nach Übernahmen habe längst eingesetzt. Die Biotechnologie beweise sich unter anderem in der Nahrungs‑, Futtermittel und Pflanzenschutzindustrie. „Die entscheidende Frage ist, ob die Konzerne ihre technologischen Ziele über eigene F&E erreichen können oder nur über Kooperationen und Übernahmen. Die Zahl der technologisch interessanten Akquisitionsmöglichkeiten ist allerdings begrenzt“, so Maurer. Das erkläre die hohen Preise.
Neue Sequenzierungstechniken sorgten für den Aufschwung
Es gibt aber auch technologische Gründe für das Engagement. „Die neuen Sequenzierungstechniken haben entscheidend zum Aufschwung der Biotechnologie beigetragen. Sie machen das Verhalten biologischer Systeme wie Pflanzen oder Mikroorganismen vorhersagbarer und beherrschbarer“, sagt Klaus Mauch, Vorstand der Stuttgarter Insilico Biotechnology AG. Viele Entscheider haben bisher mit dem Bekenntnis zur Biotechnologie gezögert. Der Grund sind viele unerfüllte Hoffnungen. „Über viele Jahre hat die Biotechnologie zu viel versprochen, aber jetzt beginnt sie zu liefern“, sagt Patrik Wohlhauser, Vorstand von Evonik. Der Essener Chemiekonzern ist ein gutes Beispiel für den Stimmungswandel in der Industrie. Seit 30 Jahren forscht er an biotechnologischen Methoden. Ein klares Bekenntnis dazu fehlte lange Zeit. Das ändert sich jetzt. Um sein Ziel zu erreichen, endlich den Börsengang zu stemmen, wird die eigene Story mit Hilfe der Biotechnologie aufpoliert. Dass das klappen kann, dafür ist die niederländische DSM ein Vorbild. Wie Evonik ein ehemaliger Minenspezialist, ist das Unternehmen heute ein Spezialchemiekonzern mit hoher Biotechnologie-Kompetenz. Die Holländer übernahmen im Jahr 2000 das Vitamin-Geschäft von Roche und haben daraus ein margenstarkes Geschäft mit Futtermittelzusatzstoffen gemacht. Anfang des Jahres ließ DSM mit der Übernahme der amerikanischen Martek Bioscience Corp. für 790 Mio. Euro aufhorchen. Mit Hilfe von Marteks mikrobieller Plattform wollen die Niederländer wie die BASF den Markt für Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren erobern. Einige Tage zuvor hatte DSM bereits ein Joint Venture mit dem Biotech-Ethanolproduzenten Poet LLC geschlossen, in dem es um die Verwandlung von Cellulose-haltigen Strohresten zu Bioethanol geht. Evonik – rund ein Drittel größer als DSM – agiert bisher vorsichtiger, dennoch sichtbar. Gerade lud der Konzern mit 33.000 Mitarbeitern und rund 15 Mrd. Euro Umsatz 150 Schlüsselmitarbeiter und Partner des Unternehmens zu einem zweitägigen Seminar nach Ostwestfalen. Einziger Tagesordnungspunkt: Biotechnologie. Ähnlich wie DSM hat Evoniks Biotech-Geschäft seine Wurzeln in der Tierernährung. Die Essener sind einer der größten Hersteller von Aminosäuren, darunter biotechnologisch hergestelltes L‑Lysin. Typisch für viele Chemiekonzerne: Die Biotech-Aktivitäten sind bereits Jahrzehnte alt, erst jetzt werden sie gerne vorgezeigt. So auch bei Evonik. Seit 30 Jahren wird im Forschungszentrum Halle-Künsebeck mit Mikrobiologie gearbeitet. 1982 – noch unter dem Namen von Degussas Pharmasparte Asta Medica – begannen 13 Pioniere mit der Arbeit. Nach der jüngsten Einstellungswelle arbeiten heute rund einhundert Wissenschaftler in Halle. Nun kann der Essener Börsenkandidat die Früchte der jahrelangen Forschung ernten. Rund 300 Mio. Euro setzt Evonik inzwischen mit biotechnologisch hergestellten Produkten um, zumeist im Geschäftsbereich „Health & Nutrition“. Der größte Umsatzbringer unter den biotechnologischen Produkten bleibt Lysin. „Chemisch synthetisiertes L‑Lysin wäre heute teurer, da die Synthese sehr aufwendig ist“, sagt Ralf Kelle, zuständig für die Biotechnologie bei Evonik. In jahrelanger Tüftelarbeit haben die Wissenschaftler in Künsebeck einen Corynebacterium-Stamm dazu gebracht, in größeren Mengen L‑Lysin zu produzieren, das Tierfutter zugesetzt wird. Das Produkt versprüht auf den ersten Blick keinen Hightech-Glanz. Es ist vielmehr der komplette braune Bodensatz einer leicht aufgearbeiteten Fermentationsbrühe. Und doch steckt eine Menge Wissenschaft darin. Denn den Forschern in Halle ist es gelungen, ihre Gram-positiven Arbeitstiere dazu zu bringen, die Aminosäure in so großen Mengen herzustellen, wie sie es in der Natur nicht tun. Auf fremde Gene wollte Evonik dabei nicht zurückgreifen – eine entsprechende Kennzeichnung wäre kontraproduktiv. „So sind lediglich Punktmutationen, Promotor- oder Genverdopplungen eingefügt, die sich auch im Laufe der Evolution auf natürlichem Wege einschleichen können “, sagt Kelle. Ein Spagat. Der Vorteil der biotechnologischen Produktion ist ihre Stereoselektivität, die chemisch wesentlich schwieriger zu erreichen ist. Denn nur die natürliche L‑Variante von Lysin ist für den Proteinaufbau zu verwerten.
Wunsch nach besserer Ernährung in Schwellenländern als Markttrend
Mit dem Verkauf dieser und auch anderer Aminosäuren setzt Evonik auf einen Megatrend, den einer aufstrebenden Mittelschicht in Schwellenländern. „Diese Menschen investieren einen großen Teil ihres neu gewonnenen Wohlstands in eine bessere Ernährung. Für viele bedeutet das schlicht, mehr Fleisch zu essen“, so Thomas Kaufmann, zuständig für New Business Development in Evoniks Ernährungssparte. Food Conversion – im deutschen mit Futterverwertung umschrieben – wird zum Zauberwort. Die Formel: Je besser das Futter verwertet wird, desto weniger muss davon eingesetzt werden, desto nachhaltiger wird die Fleischproduktion. Das Geschäft mit der fermentativ hergestellten Futtermittelaminosäure L‑Lysin baut Evonik derzeit deutlich aus und investiert hier rund 350 Mio. Euro bis 2014. Dazu gehören der Bau neuer Anlagen für L‑Lysin in Brasilien und Russland sowie die Erweiterung der Produktion im nordamerikanischen Blair auf 280.000 Tonnen pro Jahr, die gerade abgeschlossen wurde.
Cent-Beträge bei jedem verkauften Kilo
„Bis 2020 wollen wir bei Evonik allein im Geschäftsbereich Health & Nutrition mit biotechnologisch hergestellten Produkten 1 Mrd. Euro umsetzen“, sagt Reiner Beste, Chef des Geschäftsbereichs Health & Nutrition. Doch der Markt ist umkämpft. Es geht um Cent-Beträge bei jedem verkauften Kilo. Basis für die Lysin-Produktion ist Dextrose. Im US-amerikanischen Werk in Nebraska wird diese direkt vom Nachbarn Cargill hergestellt und „over the fence“ weitergereicht. Eine Art Symbiose. In Zukunft sollen jedoch weitere Substrate entwickelt werden, um unabhängiger vom Zucker zu werden. Beim Verkauf von Aminosäuren will es Evonik nicht belassen. „Biotechnologie ist für uns eine wesentliche Technologieplattform und Kernkompetenz und damit wichtig für unsere Wachstumsstrategie“, sagt Peter Nagler, Chief Innovation Officer bei Evonik. Er verweist auf weitere Erfolgsbeispiele. So sei es gelungen, die sechsstufige Synthese des Kosmetikzusatzstoffes Myristyl-Myristat mit Hilfe eines enzymatischen Prozesses auf nur noch eine Stufe zu verkürzen. In Forschung und Entwicklung werden bei Evonik jedes Jahr rund 3% des Umsatzes investiert – das waren 2011 etwa 365 Mio. Euro. Mehr als 30 Mio. Euro davon in die Biotechnologie. Im Vergleich zum Pharmastandard von etwa 10% bis 20% des Umsatzes mag das wenig erscheinen. Gegenüber seinen Wettbewerbern bewege sich Evonik damit aber auf Augenhöhe. „Wir setzen für die Zukunft zum Beispiel auch auf Kunststoffe aus nachwachsenden Rohstoffen“, so Nagler. Wenn diese Produkte mit speziellen Eigenschaften versehen sind, würde auch ein Premiumpreis bezahlt werden. [gekürzt] Quelle: biotechnologie.de/pd